Endlich wiedervereint, wenn auch nur für kurze Zeit
Ein Seemann trifft seine Tochter nach vielen Jahren wieder
Le Havre. „Ich hätte heulen können vor Enttäuschung, als ich merkte, dass mich kein Taxi abholen kommt“, offenbarte mir der Matrose auf der Fahrt vom Hafen in die Stadt.
Die erste Whatsapp-Nachricht hatte mich, wie so oft am Samstagmorgen, schon um kurz vor 8 Uhr erreicht. Der Seemann hat gerade einmal zwei Stunden, um an Land zu gehen, bevor um 12 Uhr seine nächste Schicht beginnt. Ja, auch im Hafen haben Seeleute nicht automatisch „Urlaub“. Leider macht der Club hier in Le Havre samstags erst um 12 Uhr auf, erkläre ich ihm. Ich ging davon aus, dass er dann wohl einfach später am Nachmittag an Land gehen können würde.
Als er mich in der Mittagspause wieder kontaktiert, verstehe ich die Problematik: Seine älteste Tochter wohnt in der Basse-Normandie und hat sich mit ihrer Tante und ihren beiden Kindern nach Le Havre aufgemacht, um nach fünf langen Jahren endlich ihren Vater wiederzusehen. Sie sind hier in der Jugendherberge untergekommen. Die Frau des Seemanns verstarb vor elf Jahren bei einem tragischen Autounfall.
Nach seiner Schicht holte ich ihn ab und brachte ihn zu einem Supermarkt in Strandnähe, den wir als Treffpunkt mit der Tochter ausgemacht hatten. Im Auto erzählte er mir, warum sie sich so viele Jahre nicht sehen konnten: Seine Tochter lebt seit acht Jahren in Frankreich. Wie viele andere junge Menschen zog sie aus Madagaskar zum Studieren dorthin und lernte ihren späteren Mann kennen.
Inzwischen haben die beiden geheiratet und selbst zwei Kinder, eine zweijährige Tochter und ein Baby. Erst hatte die Coronapandemie einen Besuch der Tochter unmöglich gemacht und in den letzten beiden Verträgen, die er auf einem Containerschiff für MSC fuhr, wurde Le Havre immer recht kurzfristig aus den Fahrtrouten gestrichen.
Normalerweise verbringt er zehn Monate an Bord. Ich war erstaunt, dass er kaum Französisch sprach. Das kenne ich anders, denn schließlich ist Französisch immer noch eine der Amtssprachen Madagaskars vor der afrikanischen Südostküste. Daher unterhalten wir uns, wie mit den meisten Seeleuten üblich, auf Englisch. Für die weltweit aktuell größte Containerlinie ist er seit zwanzig Jahren tätig, meist ist er der einzige Seemann aus Madagaskar an Bord. Er ist aufgeregt, wirkt schüchtern und freut sich allerdings sichtlich, es endlich zu schaffen, seine „Große“ zu treffen. Er erzählt, dass er im Seemannsclub im britischen Felixstowe kostenlos gestrickte Puppen und Tiere mitnehmen durfte. Die sind nun für seine beiden Enkelinnen, die er noch nie live und in Farbe gesehen hat.
Dann endlich ist der so lange ersehnte Moment gekommen. Ich hätte lautes Kreischen, Umarmungen und Freudentränen erwartet, aber nichts von alledem. Die Begegnung verlief eher ruhig. Die zweijährige Enkelin fremdelte logischerweise und wollte dem „Unbekannten“ nicht die Hand geben. Das erinnerte mich an die Geschichte eines ghanaischen Kapitäns, der sagte, dass selbst sein eigener Sohn ihn nach einem Vertrag im Kleinkindalter nicht erkannt und zu weinen begonnen hatte, als er nach fast einem Jahr zurück nach Hause kam.
Da denke ich bei mir, dass wir Landratten uns häufig nicht genügend Zeit für unsere Kinder nehmen. Seeleute können das bis heute nicht selbst bestimmen. Im Laufe eines Jahres sind die meisten Seeleute der südlichen Hemisphäre, also auch aus Myanmar, Bangladesch, Indien, Sri Lanka, Samoa, Ghana, Tansania und Madagaskar, oft nur zwei Monate zu Hause. Das Paradoxe daran ist, dass in Ländern mit Niedriglöhnen und geringen Karrierechancen, Bildung kostenpflichtig ist. Die meisten Seeleute geben an, dass sie so lange zur See fahren werden, bis ihre Kinder nach der Uni Jobs gefunden haben. Meist finanzieren sie nicht nur die Ausbildungen der leiblichen Kinder, sondern oftmals auch die der jüngeren Geschwister oder nahen Verwandten, damit diese es hoffentlich einmal besser haben werden als sie selbst.
Als ich den Seemann am späten Abend von der Jugendherberge abhole, wirkt er zufrieden und sagt optimistisch: „Nächstes Jahr kommt Tatyana mit ihrer Familie nach Madagaskar. Darüber wird sich auch ihre jüngere Schwester sehr freuen.“ Die temporäre Familienzusammenkunft im größten Containerhafen Frankreichs scheint ihn zuversichtlich gestimmt und gestärkt zu haben. Es geht zurück in sein „schwimmendes Gefängnis auf Zeit“, dass seinen Töchtern eine bessere Bildungsperspektive ermöglichte.
Solche Momente miterleben zu dürfen, stärkt die eudaimonische Zufriedenheit* in meinen täglichen Aufgaben für Seeleute. Solche Begegnungen machen viele Kämpfe und Diskussionen wett, um Zugang zu Privatterminals zu erlangen oder den Papierkrieg für Ausweise, damit ich an Bord gehen darf.
*«Das „eudaimonische“ Wohlbefinden bezeichnet den Grad des „Erfüllt-Seins“. Damit verbunden ist die Frage, ob das, was man mit seinem Leben macht, als wertvoll und nützlich empfunden wird.»
(Quelle: Subjektives Wohlbefinden und Sorgen: Einleitung | Sozialbericht 2024 | bpb.de)
Text: Diakonin Silvie Boyd, Le Havre