Teestunde bei der Jahrhundertstimme der Seemannsmission
Carl Osterwald war Generalsekretär von 1973 bis 1984 und prägte bei der Deutschen Seemannsmission eine Ära. Ein Ortstermin in Ostfriesland bei einem Mann, der sich gern an seine Zeit bei der Seeleute-NGO erinnert und auch mit 95 Jahren noch den Kampf für Seeleute verfolgt.
Ein gemütliches Landhaus in Münkeboe mitten in Ostfriesland, zwischen Aurich und Emden. Man sieht mehr Kühe als Menschen und eine üppige Natur, die Touristen aus ganz Deutschland anzieht. Da wohnen Gertrud und Carl Osterwald. Sie 92, er 95 Jahre alt! Und topfit. Natürlich war sie heute Morgen schon im Supermarkt einkaufen, er zum Milchholen beim Bauern. Es hat sich schließlich Besuch angesagt, und gastfreundlich, das sind die Ostfriesen, denen ja häufig eine gewisse Reserviertheit nachgesagt wird.
„Aber wir sind sehr sehr dankbar für das Leben, das wir haben. Es ist ein Geschenk, dass wir noch so fit sind. Und das zusammen!“, sagen die Osterwalds, die seit 68 Jahren verheiratet sind und vier Kinder haben. Carl Osterwald ist nicht weniger als die Jahrhundertstimme der Deutschen Seemannsmission, war er doch von 1973 bis 1984 ihr Generalsekretär. Und der Stimme dieses immer noch attraktiven Mannes hört man gern zu. Hat er doch einiges zu erzählen!
Gertrud Osterwald hat für den Besuch aus Hamburg zum Tee eingedeckt: Porzellan mit Ostfriesenrose – das hat man hier so –, Kluntje, Sahne und sogar frisch gebackene Neujahrskuchen. Das ist eine ostfriesische Waffelspezialität, die nach Anis schmeckt. „Da kann man herrlich den ganzen Tag drauf rumkauen!“, findet Carl Osterwald. Es ist einfach schön, ihn und seine Frau gemeinsam zu beobachten. Ein Wort reicht aus, ein Gedanke ergibt den anderen, ein Blick, und in den Köpfen der beiden scheint ihr langes gesegnetes Leben in diesem Moment abzulaufen. Ein zufriedenes Leben muss das bisher gewesen sein. Stark durch Gemeinsamkeit, dem anderen helfen, wenn es ihm nicht gut geht. Hand in Hand das Leben managen. Viel Liebe geben.
So hat Carl Osterwald stets auch seine Arbeit bei der Seemannsmission verstanden: „Zur Seemannsmission kam ich 1954. Da hatten wir den Krieg noch in den Knochen. Ich hatte zuletzt an der Ostfront gekämpft und war mit dem Dienstgrad eines Matrosen entlassen worden. Wohl deshalb schickte man mich nach dem Examen als Vikar zur Bremer Seemannsmission nach Bremen. Neun Monate habe ich dort im mit ca. 100 Seeleuten immer voll belegten Seemannsheim gewohnt und Erfahrungen gemacht, die mich nie wieder losgelassen haben“, erinnert sich Osterwald. „Damals hatten die Schiffe noch große Besatzungen. Und viele Seeleute hatten keine Familie. Wir haben deren Geld verwaltet, damit sie es nicht alles auf den Kopf hauen. Anders als heute führten viele Bewohner der Seemannsheime ein relativ trostloses Leben mit Besitztümern, die in einen Seesack passten. Bier und Schnaps war fast jeder zugeneigt“, sagt Osterwald, der sich heute für Geflüchtete und die Erinnerung an die Verbrechen des Nazi-Regimes einsetzt. Osterwald selbst bezeichnet sich als linker Pazifist.
Neun Monate blieb Osterwald zunächst als Vikar, dann folgten Predigerseminar und das zweite Examen. Schließlich wurde Osterwald Pastor in der Gemeinde Arle bei Norden, „das Kapitel Seemannsmission war damit für mich erst mal erledigt. Ich hatte aber Gefallen an der Arbeit dort gefunden. Ostfriesen haben beides – Heimweh und Fernweh –, die Seemannsmission passte irgendwie zu meiner Lust auf Weite.“
1964 dann ein neues Abenteuer im Leben der Osterwalds: Im Sonntagsblatt entdeckte Carl eine Anzeige der St.-Martini-Kirche in Kapstadt, die einen neuen Pastor suchte. Carl Osterwald damals zu seiner Frau: „Wir gehen nach Kapstadt!“ Ihre Antwort: „Du bist verrückt!“ Doch genau so kam es. Mit vier Kindern (alle haben später in verschiedenen Funktionen bei der Seemannsmission gearbeitet) ging es per Schiff nach Südafrika!
Ein äußerst gewagtes Unterfangen, wie Carl Osterwald heute feststellt:
„Wir hatten wenig Gehalt, mussten Schulgeld bezahlen, hatten keine Krankenkasse und kamen grad so über die Runden. Man war aber als Pastor Teil der Oberschicht, wurde immer eingeladen. Wir selbst mussten diese Einladungen nicht erwidern, jeder wusste, der Pastor hat kein Geld.“ Wichtiger Teil der Gemeindearbeit in Kapstadt waren für Osterwald die Arbeit mit Seeleuten und die Besuche auf den Schiffen. Auch Ausflüge waren im Angebot – „Südafrika, das war auch eine furchtbar bedrückende Zeit, mitten im Apartheidsregime. Aber dort lernte ich auch die Theologie der Befreiung kennen, die mich geprägt hat.“
1973 ging es zurück nach Deutschland, das sich zwischen 1964 und 73 enorm verändert hatte. Es ergab sich die Möglichkeit, bei der Deutschen Seemannsmission Senior-Pastor zu werden, diese Funktion wurde später in die des Generalsekretärs umgewandelt. „Da dachte ich: Das ist eine schöne Sache! Da habe ich meine Seemannsmission, meine Auslandserfahrung, und Hamburg ist ja auch eine tolle Stadt.“ Es war der Beginn eines neuen Abenteuers im Leben der Osterwalds.
„Wir hatten nach neun Jahren Afrika keine Ahnung von Deutschland, waren noch nie in Hamburg gewesen. Wir hatten ziemlich mickrige Gehälter, Urlaube und Reisen mit vier kleinen Kindern waren nicht drin“, erinnert sich Osterwald.
Der Start als Generalsekretär begann gleich mit dem Todesfall eines Diakons in Afrika, Osterwald musste nach Libreville, um vor Ort die Nachbesetzung zu organisieren – „es war eine schwierige Zeit.“
Die 70er Jahre, das heißt Containerisierung, Ausflaggung, internationale Besatzungen, ungleiche Bezahlungen – es war eine neue Zeitrechnung in der Schifffahrt, die Carl Osterwald begleitete. „Während es vielen Reedereien um Profitmaximierung ging, standen bei uns die Menschen an Bord im Vordergrund. Das passte oft nicht so richtig zusammen. Auf der anderen Seite gab es aber auch gute Gespräche mit den Reedereivertretern“, so Osterwald, der in seiner Zeit als Generalsekretär unter anderem die Gründung der Station in Jakarta verantwortete und gemeinsam mit seinem katholischen Kollegen Leo Kreiss die Weichen stellte, die 1986 zur Gründung des Duckdalben in Hamburg führten. Lange bevor die Deutsche Seemannsmission sich zum „Support of Seafarers Dignity“ bekannte, hat Osterwald genau dafür gekämpft, zum Teil war es ein Kampf mit dem damaligen Vorstand, aber das brachte die Professionalisierung der Arbeit voran. Er sah in den Gewerkschaften, vor allem der ITF, wichtige Partner und Unterstützer der Arbeit. Durch den vermehrten Einsatz von Zivildienstleistenden und diakonischen Helferinnen brachte er zudem frischen Wind in die Einrichtungen im Inland.
Eine besondere Leidenschaft war für den Elder Statesman der Deutschen Seemannsmission stets die Arbeit im internationalen Zusammenschluss der Seemannsmissionen (ICMA), deren Chairman Osterwald fünf Jahre lang war. „Eine tolle Zeit. Wir haben uns alle prima verstanden und richtig viel für die Seeleute vorangebracht. Unter anderem ein internationales Büro für Seafarers Rights in New York“, sagt Osterwald heute und nippt an seinem Ostfriesentee.
1984 war dann Schluss bei der Deutschen Seemannsmission e. V., „ich hatte am Ende das Gefühl, dieses schwierige Konstrukt Seemannsmission in gewisser Weise geeint zu haben, sowohl auf lokaler als auch internationaler Ebene.“ Seitdem hat sich Carl Osterwald vielfältig sozial engagiert, war unter anderem elf Jahre lang als „Flüchtlingsbeauftragter“ tätig und hat sich in Ostfriesland dafür viel Respekt erarbeitet. 2009 wurde er Vorsitzender eines KZ-Gedenkvereins, in dem er bis heute tätig ist, vor allem lässt er als Zeitzeuge vor Schülern seine reiche Lebenserfahrung fruchtbar werden.
Und natürlich beschäftigt ihn die Arbeit der Deutschen Seemannsmission für Seeleute in aller Welt bis heute. Viele Entwicklungen stimmen Carl Osterwald, die Jahrhundertstimme der Seemannsmission, dabei nachdenklich. Vielleicht sollte man auf einen Mann wie ihn hören, wenn er sagt: „Die Güter herrschen, der Mensch ist nichts mehr. Es müsste aber umgekehrt sein. Güter sind zum Gebrauch des Menschen bestimmt.“
Die Seemannsmission trauert um Carl Osterwald
Die Deutsche Seemannsmission trauert um ihren ersten Generalsekretär Pastor i. R. Carl Osterwald, der am 16. Dezember 2024 im Alter von 97 Jahren verstorben ist. Zum Nachruf