Wiedersehen nach vielen Jahren
Zeitweise Familienzusammenführung in Le Havre
Der Kapitän eines Containerschiffes einer deutschen Reederei stand abfahrbereit in ziviler Kleidung in der Tür zur Crewmesse, wartete aber geduldig drauf, bis ich seine Crew mit Segensbändchen versorgt hatte. Ich hatte vor, ihn mit an Land zu nehmen. Erst im Auto, als mein Hund Fluffy dem Seemann ausgiebig die Hände leckte, erfuhr ich, warum er es so eilig hatte, von Bord zu kommen: Nach Jahren wollte er endlich wieder seinen Cousin treffen, Erster Offizier auf einem Allzweckfrachter, der bereits seit zehn Tagen bei uns in Le Havre für Reparaturen am Kai lag. Beide stammen ursprünglich aus dem ukrainischen Kherson und hatten glücklicherweise ihre Familien zur Flucht ins Exil verhelfen können. Der Kapitän lebt jetzt in Georgien, sein Cousin und dessen Familie in Montenegro. Dass beide Männer zur selben Zeit im selben Hafen lagen, war wie ein Sechser im Lotto, und wir konnten ihnen tatsächlich ein paar wertvolle Stunden Familienzeit in Le Havre bieten. Der Erste Offizier, der an Bord des Kapitäns fuhr, war ein Klassenkamerad seines Cousins, der nun wiederum in Polen exiliert ist und der Kapitän des zu reparierenden Schiffes war ebenso aus Kherson. So klein ist die maritime Welt dann doch manchmal. Für mich persönlich das Schönste an der ganzen Geschichte, in dieser Familie sind alle auch Hundeliebhaber. Wir sind uns einig gewesen: Hunde sind wohl die besseren Menschen – sie lieben bedingungslos und führen keine Kriege.
Text: Silvie Boyd, Diakonin, Leiterin der Deutschen Seemannsmission Le Havre
Wer Monate lang an Bord eines Schiffes arbeitet, verpasst vieles. Unsere Diakonin setzt sich immer wieder dafür ein, dass Seeleute ihre Angehörigen wiedersehen können, wenn auch nur für ein paar kostbare Stunden, wie auch im Falle eines Seemanns von Madagaskar, der nach fünf Jahren seine Tochter und erstmals auch seine Enkelinnen getroffen hat.


Foto: Stefanie Langos