Was Diakonin Silvie Boyd mit Seeleuten in Le Havre erlebt
Auf einem Tankerschiff im Hafen von Le Havre traf ich zwei Besatzungsmitglieder aus der Ukraine an Deck. Einer von ihnen hatte Gesprächsbedarf, obwohl er zunächst sagte, dass mit seiner persönlichen Situation alles in Ordnung sei. Nach ein bisschen Smalltalk über andere Dinge, erzählte er mir, dass er jetzt in Lettland lebe, seine beiden erwachsenen Kinder mit ihren Familien in Berlin, aber seine Frau mit seiner kranken Mutter sei immer noch in Odessa. Er erklärte, wenn er in Riga Urlaub mache, käme seine Frau für kurze Zeit vorbei, um ihn zu treffen, aber sie könne seine alte und kranke Mutter nicht für einen längeren Zeitraum ohne Betreuung lassen. Er sagte, dass der Kriegslärm Auswirkungen auf die Reaktionen unseres Körpers habe: Sirenen würden Stresshormone produzieren, und das sei der Grund, warum seine Frau weine. Nach einer so langen Zeit der Hoffnung, dass ihre Familie wieder zusammengeführt werden kann, ist keine Lösung in Sicht. Während ich zwei jüngere ukrainische Besatzungsmitglieder in den Club fuhr, vertraute mir einer von ihnen an, dass er im ersten Kriegsjahr noch glaubte, dieser Krieg würde morgen enden, doch diese Zeiten seien nun gänzlich vorbei. Jetzt sei er, was das angeht, desillusioniert.
Nach Erklimmen der steilen Gangway eines riesigen Containerschiffs, traf ich den Zweiten Offizier. Als ich ihm eine kostenlose Postkarte als Souvenir anbot, hatte er eine ganz besondere Idee: Nicht die Sozialarbeiterin in mir bot ein „Projekt“ an, sondern der Offizier fragte mich, ob ich bereit wäre, seiner Familie einige Zeilen auf Deutsch und Französisch zu schreiben, die er dann ins Hindi übersetzen würde, er wollte also zwei Postkarten. Mit dem Hinweis, dass er die Generation Whatsapp sei, verwechselte er zunächst Brief und Postkarte und fragte mich, wohin die Briefmarke geklebt würde, und wie viel ich dafür berechnen würde. Ich war so beeindruckt von seiner Eigeninitiative, dass er sich die Zeit nahm, um ein einzigartiges Souvenir zu erschaffen, natürlich würde das Porto aus dem Stationsbudget gehen. Außerdem bat er den Kadetten aus Belarus, ein Foto von uns mit den Postkarten in der Hand zu machen, druckte diese Bilder aus und laminierte sie sogar. Ein echter Perfektionist!
Die verrückteste Geschichte zum Schluss: Auf einem anderen Containerschiff traf ich einen rumänischen Kapitän, dem ich vor zwei Jahren bei einem Notfall begegnete. Damals war der pakistanische Chefkoch in Le Havre plötzlich verschwunden. Eigentlich sollte er nur zum Arzt, doch dann kam er nie wieder zurück an Bord. Als er die Regeln für den Landgang bemerkte, merkte er provokativ an: „Ich bin der Kapitän, ich könnte den Landgang für die Mannschaft verbieten, dann hätte ich weniger Stress. Was ist, wenn wieder jemand desertiert? Es ist uns gerade wieder im Hamburger Hafen passiert, dass zwei Burmesen nicht zu ihrem Dienst auf dem Schiff zurückgekehrt sind.“ Die meisten Leute haben wohl vergessen, dass in Myanmar immer noch Bürgerkrieg herrscht, aber das interessiert die Weltpolitik nicht wirklich. Dieser Kapitän zweifelte an der Vertrauenswürdigkeit seiner Mannschaft. Ich versuchte, ihn zu beruhigen und ihm zu sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ihm so etwas noch einmal passiert, in etwa so gering ist wie ein Lottogewinn, und überreichte ihm meinen Aufkleber für den Fall von Anfechtungen.
Eine große französische Reederei hatte auch einige desertierende Seeleute aus Myanmar, allerdings in den USA. Ihre Lösung ist infolgedessen jetz Landgang für ihre Besatzungen in den USA kategorisch zu verbieten. Darf das die Lösung sein? Die Strafen pro Kopf für die Reeder sollen sich auf 50.000 Dollar belaufen, außerdem ist die Reederei haftbar für alle illegalen Handlungen der desertierten Seeleute.
Das waren Begegnungen einer ganz normalen Woche in Le Havre. Wir können unseren Arbeitstag meist nicht planen. Wir wissen weder wie lange noch wo der Arbeitstag stattfinden wird. Die Bordbesuche sind so vielfältig wie die Seeleute, denen wir begegnen. Was wir dafür brauchen sind Flexibilität, offene Ohren für aktives Zuhören und Einfühlungsvermögen, auch wenn wir persönlich die Situation als skurril beurteilen mögen.